Sie sind hier: Aktuelles - Haupt-Sponsoren
Akustisches Manifest von Peter Androsch
![]() |
AKUSTISCHES MANIFEST
Von Peter Androsch, österreichischer Komponist, Publizist, Musiker und bildender Künstler und künstlerischen Leiter der Sparte Musik der Europäischen Kulturhauptstadt Linz09 ein. Androsch gestaltete das bis heute bestehenden Projekt Hörstadt.
1. - Die Architektur ist zu einer tauben Disziplin verkommen, zu einer Kulissenschieberei. Sie baut Hörsäle, in denen man nicht hören kann, Krankenhäuser, die krankmachen, Wohnungen, in denen wir uns nicht verstehen können, Schulen, die unsere Kinder hyperaktiv, aggressiv und schwerhörig machen. Ihre Bauten richten sich wie Waffen gegen uns selbst. Sie bündeln, fokussieren, verstärken, ja erzeugen die Schallstrahlen, die uns quälen. Neues Bauen heißt Hören!
2. - Die Verkehrsplanung ist Dienerin des Fetischs Mobilität. Auf ihrem Altar wird die Freiheit des Menschen geopfert. Lärmcanyons zerschneiden das Land und schützen mit Lärmschutzwänden die Verursacher des Lärms – den Verkehr. Lärmschutzfenster machen unsere Häuser zu Gefängnissen. Befreit den Menschen aus der Sklaverei kapitalistischer Bewegungsideologie!
3. - Das Unrecht hat sich in den Schatten gesellschaftlicher Aufmerksamkeit verkrochen. Die Lawine globalisierter Schallstrahlung reißt die mit, die sich nicht in ruhigen und damit teuren Wohngebieten verschanzen können. Die von Bodenschätzen leergesaugten Erdhohlräume nähren als Resonanzkörper den vibrierenden Kapitalismus immer aufs Neue. Wer im Lärm lebt, ist arm. Wer arm ist, lebt im Lärm. Eine neue Raumplanung ist akustische Raumplanung!
4. - Parallele Wände, uniforme Materialien und Oberflächen erhöhen die Belastung des Gehörs und verringern Sprachverständlichkeit und Hörsamkeit. Kinder quälen sich in den Schulen, niedergedrückt von der Gewalttätigkeit der Klassenräume. Kinder wollen hören lernen, um sich und die Welt zu entdecken. Gründet eine neue Schule!
5. - Überbordende und dauernde Schallstrahlung durch Lärm, Hintergrundmusik, Selbstbeschallung erhöht die Belastung des Sinnesapparates
und erschwert die Integration akustischer und visueller Eindrücke. Stress, Tinnitus, Hörsturz, ja Herzinfarkt können die Folge sein. Ruhezeiten und Ruheräume müssen ein Menschenrecht sein!
6. - Wir wollen uns an der gigantischen Leistungsfähigkeit unseres Gehörs ein Leben lang erfreuen. Aber auch wenn das Hörvermögen nachlässt, wollen wir weiter an der Welt teilhaben können. Es braucht bestmögliche Hörgeräte und keine desorientierenden Krücken, die von ungelernten Dilettanten in unsere Ohren gestopft werden.
7. - Die Hyänen des akustischen Raums, Handel und Dienstleistung, bestrahlen unsere Körper mit Schalltapeten, um das Surren der Klimaanlagen, Server, Lüftungen, Lifte und Rolltreppen ihrer minderwertig geplanten und billig zusammengeschusterten Einkaufszentren zu übertünchen und um uns dumm und konsumsüchtig zu machen. Schluss damit!
8. - Tief in die Gehörgänge sind die Stöpsel gestopft. In öffentlichen Bussen, Straßenbahnen, Zügen, U-Bahnen, auf den Straßen, in den Parks und aus den armseligen Lautsprechern von Mobiltelefonen plärren die armseligen, komprimierten und maximierten Kunststoffmusiken. Wir wollen keine durchvibrierten, hyperaktiven kleinen Monster als Kinder!
9. - Das Irrenhaus der Akustik ist bevölkert von Parasiten: Warteschleifen, Jingles, Audiologos, Soundicons, Warn- und Signaltöne, Corporate Sounds, Auftragsfirmensongs, Klingeltöne nisten sich ein in den Gehörgängen. Weg damit! Wir sind Menschen, keine Zielgruppe.
10. - Mehr als alle Lärmschutzwände zusammen könnten eine allgemeine Absenkung der Tempolimits im Straßenverkehr und eine Verkleinerung der Fahrzeuge bewirken. Doch die Autoindustrie hat sich wie eine Hydra mit Abermillionen Köpfen über die Welt gelegt. In die entlegensten Winkel trägt sie den Lärmstrahlungsterror durch permanenten Gesetzesbruch. Sie produziert Gefährte, die viel schneller fahren können als erlaubt. Und der Staat schlottert vor
dem Industrieungetüm statt ihm den einen unsterblichen Kopf abzuschlagen.
11. - Wir wollen Bauten und Städte mit einem ausgewogenen Raumklang, mit einem reichen Frequenzspektrum. Wir brauchen Räume, in denen wir uns ins Gespräch vertiefen und konzentriert arbeiten und denken können. Wir wollen Krankenhäuser und Pflegeheime, wo wir in Ruhe und in Würde aus der Welt gehen können. Wir wollen nicht en passant zur Besuchszeit in lauten und überfüllten Zimmern sterben.
Nachrede
Jeder Mensch hat das Recht, gesunde Luft zu atmen. Jeder Mensch hat das Recht auf eine gesunde Umwelt. Und jeder Mensch hat das Recht auf körperliche Souveränität. Der Mensch hat deshalb auch das Recht, durch das, was in seine Ohren eindringt, nicht krank zu werden und nachts schlafen zu dürfen. Und noch viel mehr: Er hat auch das Recht, bei dem, was in seine Ohren eindringt, demokratisch mitzubestimmen und es selbst mitzugestalten.
Wir veröffentlichen dieses Manifest, damit der akustische Raum endlich politischer Raum wird. Wir fordern eine neue Politik! Hören ist Leben.
Peter Androsch
Im Auftrag von Pro Rheintal, anlässlich des internationalen Bahnlärm Kongresses 2010 in Boppard, Germany!